Mei mei meinung

Wie jedesmal, wenn ich mit der Philosophin Essen war, frage ich mich, ob mit meinem Gehirn etwas nicht in Ordnung ist. Ich bin zwar im normalen Alltag in der Lage, Bücher, Zeitungen und Blogs zu lesen und darüber nachzudenken. Ich kann mir eine Meinung bilden und - noch wichtiger - sie ab und zu wieder revidieren, weil mich neue Argumente überzeugen. Ich kann Fakten aufnehmen und abwägen, ich höre zu, was allerorten so geredet und diskutiert wird und überlege, ob das so zutreffen kann. Ich versuche, zu denken.

Der Defekt muss irgendwo an der Verbindung bestimmter Synapsen zum Sprachzentrum liegen. Vielleicht ein Wackelkontakt? Oder möglicherweise fehlt ein entscheidender Nervenstrang? Sobald ich nämlich über die Lippen bringen muss, was all diese elektronischen Impulse in meinem Kopf an Gedanken zusammengebrutzelt haben, gerät alles durcheinander. Ich beginne sozusagen zu stottern, bevor ich einen einzigen Satz gesagt habe.

Das führt dazu, dass ich schon weiter denke, während ich noch redend versuche, die Gedanken vernünftig zusammenzufassen. Vernünftig? Ich widerspreche mir selbst, gestikuliere mit den Händen, sehe die Verwunderung in den Augen des Gegenübers und vergesse, was ich zum Thema gelesen habe und eigentlich erzählen wollte. Höre ich mir selber zu, verdrehe ich die Augen ob solcher Einfältigkeit. Könnte ich doch vor jedem Gesprächsabschnitt mindestens drei Minuten nachdenken, meine Gedanken ordentlich strukturieren und sie, gebändigt und konzentriert - weiter ins Sprachzentrum schicken. Los da, würde ich ihnen ermunternd nachrufen, bleibt ruhig und macht eure Sache gut! Aber ich sähe die Philosophin, die ich ohnehin schon viel zu selten treffe, noch weniger, weil sich ein Gespräch mit mir in Fäden ziehende Längen ausdehnen würde. Sie erzählte etwas - ich dächte drei Minuten nach und nagelte mir eine wacklige Antwort zusammen - wir kämen nicht zum Essen und zum Wein trinken dazwischen!

Trotzdem sage ich nie: Dazu habe ich noch keine Meinung. Reden wir über etwas, fühle ich mich sofort schuldig, weil ich offensichtlich nicht genügend darüber nachgedacht habe: Will ich Organspenderin sein? Ist Moral objektiv? Darf man sich über die Männer verschleierter Frauen aufregen? Soll man Fleisch essen?
Ich denke mir hektisch eine behelfsmässige Meinung. Aber herrscht nicht geradezu ein Meinungszwang? Wir müssen immerzu zu allem eine Meinung haben, sonst geraten wir in Verdacht, als stumpfe Herdentiere fremde Meinungen wiederzukäuen. Zum Glück kann ich diesen Gedankengang hier abbrechen, weil ich mit dem Wolf Turnschuhe kaufen gehen muss. Ich würde mich verzetteln, statt zu sagen: auch darüber weiss ich nicht viel.
Lilli legt los - 14. Nov, 03:51

Also das sind Fragen... wollen Sie, dürfen Sie, sollen Sie? Ich kann gut verstehen, dass Ihnen da das Essen im Hals stecken bleibt! Sagen Sie doch einfach, Sie würden solche Themen grundsätzlich erst beim Nachtisch diskutieren, auf keinen Fall vorher.

chamäleon123 - 14. Nov, 15:36

Nein, die Debatte finde ich sehr anregend und interessant - wenn ich mich nur äussern könnte!
diefrogg - 14. Nov, 16:48

Deine Freundin...

scheint eine Person zu sein, die gelernt hat, eine Meinung zu haben und sie auch zu vertreten. Beides muss man lernen und häufig trainieren, vor allem als weibliches Wesen ("Little girls should be seen but not heard", haben wir schliesslich als Schweizer Mädchen auf 100 schweizerdeutsche Arten gelernt). Ich musste es lernen (spät), weil ich eine Zeitlang meinen Standpunkt an militärisch geführten Sitzungen gegen eine misstrauische Männermehrheit vertreten musste. Ich bin oft fast gestorben vor Angst.

Eine Meinung zu haben und zu vertreten ist übrigens einfacher, wenn die Gegenwehr schwach ist. Deine Freundin spielt an diesen Treffen offenbar jeweils ein Spiel, bei dem sie die Oberhand hat. Ich bin nicht sicher, ob es gut ist, mit Freunden zu lange Spiele zu spielen, bei denen man die Oberhand hat.

Ich bin auch nicht sicher, ob es nötig ist, zu allem eine Meinung zu haben. Gerade sollte ich mir eine Meinung zu "Gender Trouble" von Judith Butler bilden. Lebensfernes Bildungsgewixe? Oder die einzig vernünftige Position zur Geschlechterfrage? Ist immer noch beides möglich für mich. Ich glaube, ich werde versuchen, in der Diskussion (mit einer Freundin) die Advocata diaboli zu spielen - aber wir spielen nicht um die Oberhand (hoffe ich).

chamäleon123 - 14. Nov, 21:58

Sie ist sehr sehr klug...

...meine Freundin, aber kein bisschen manipulativ oder berechnend. Neinnein, keine Spiele! Und ich lasse nichts auf die Philosophin kommen - natürlich weiss sie um Äonen besser Bescheid über Ethik und Moral und vieles mehr als ich, aber es geht nicht um die Ober- oder Unterhand. Ich habe einzig und allein meine mangelhaften rhetorischen und kombinatorischen Fähigkeiten beklagt. Ich bilde mir eigentlich leidenschaftlich gerne Meinungen . Und ich war wohl ein ziemlich untypisches Schweizer Mädchen - Typ ernst indianerspielende Einzelgängerin statt kichernde Gruppendynamikerin. Aber diese Sitzungen - ich kenne sie auch. Das sind die, in denen ab und zu einer eine von mir zaghaft gemurmelte und von niemandem wahrgenommene Idee aufschnappte und drei Minuten später als seine eigene verkaufte - mit Lob und Begeisterung versehen. Also doch Weibchenschema.
Judith Butler? Schreibst Du über Frauenquoten? Oder Transsexualität? Ich bin gespannt auf deine Meinung.
diefrogg - 15. Nov, 20:44

Lustig!

Ich war auch eine ernst Indianerlis spielende Einzelgängerin! Wirklich! Wie klein die Welt doch ist!

Transsexualität? Frauenquoten? Leider weder noch. Ich wollte einer jungen Freundin helfen, die an ihrem Literatur-Akzess für die Uni rackert. Sie bat mich, das Buch zu lesen. Ich versprach es - obwohl ich mich gut erinnerte, dass ich die Lektüre in meiner Jugend glattweg verweigert habe. "Auch Feministinnen müssen sich nicht alles zumuten", sagte sich die junge Frau Frogg damals. "Dieses selbstgefällige, unverständliche Gelaber von diesen PoststrukturalistInnen! Und dann will diese Frau mir auch noch erzählen, dass mein Geschlecht gar nicht existiert. Hallo?! Ich habe doch Augen im Kopf und einen Spiegel im Haus begehre im Allgemeinen sehr deutlich Männer - das lässt sich soch nicht einfach weg-queer-theoretisieren!"

Also las ichs jetzt mit 47. Und ich muss sagen: Ich finds ein interessantes Gedankenspiel - die Vorstellung, dass weder ich, noch irgendjemand sonst wirklich so ist wie er herüberkommt. Mit Butler im Kopf erkennt man die eine oder andere Worthülse irgendwo im Fernsehen oder in Texten als manipulative patriarchale Masche. Aber insgesamt fahre ich doch besser damit, mich so zu akzeptieren, wie ich mich fühle: Wie eine heterosexuelle Frau Mitte 40, die ihre Erfahrungen im Umgang mit Geschlechterspielchen gemacht und in "Gender Trouble" keinen Lösungsansatz für die Probleme findet, mit denen Frauen und Männer sich im Alltag herumschlagen.


gelesen:


Michael Robotham
Sag, es tut dir leid


Simone Buchholz
Bullenpeitsche


John Williams
Stoner


Stephen King
Doctor Sleep


Paul Auster
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Das CHAMÄLEON wechselt natürlich ständig die Farbe. Es läuft öfters rot an vor Wut wenn es wieder einmal an allem schuld sein soll, wird höchstens gelb vor Neid wenn es Reiseberichten anderer Leute zuhört oder ist ab und zu blau, weil es immer mal wieder die Luft anhalten soll. Der KLEINE BÄR ist mittlerweile gar nicht mehr sooo klein und muss derzeit hauptsächlich mit List und allerlei Tücke von seinem Nintendo Wii weg und zu den übrigen Freuden des Lebens hingeführt werden. Er verbringt gerne viel Zeit in seiner kuschligen Bärenhöhle und hält Schule für eine schlimme Verschwendung seiner Zeit. Der Bär ist von sanftem Charakter, aber ausserdordentlich eigensinnig. Und manchmal brummt er gehörig. Der KLEINE WOLF ist für jede Aktivität zu haben - ausser manchmal für Geschirrspülmaschine ausräumen. Er legt gerne weite Strecken zurück, auch in Wander- oder Schlittschuhen - und jagt unermüdlich nach süssem Naschwerk. Ab und zu knurrt er grimmig, heult wild und zeigt die Zähne. Macht aber gar nichts. Der LIEBSTE schliesslich ist eben einfach der Liebste. Meistens jedenfalls. Ferner wären da noch das überaus treue SCHLECHTE GEWISSEN. Und natürlich ERNST...

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