Bingo! Oder?
Kürzlich war ich an einer geheimen Versammlung. Im muffigen Untergrund einer sehr grossen Zivilschutzanlage trafen sich 563456 Frauen, teilweise waren sie vermummt, alle blickten sie sich nervös um und keine von ihnen sprach mit der Sitznachbarin. Auf einem Banner stand in blutroten Buchstaben „Die Rezession ist weiblich“ und Helferinnen des örtlichen Frauenvereins verteilten Plastikbecher mit schalem Wasser und Totenbeinli-Kekse - ein Sponsoringbeitrag eines Grossverteilers.
„Sie sind uns nicht egal“ war auf jedem der länglichen Biskuits in aufwändiger Backglasur zu lesen und nachdenklich kratzte ich mit den Schneidezähnen so lange auf der Keksoberfläche herum, bis das „nicht“ prompt unleserlich geworden war. „Ach, egal“, dachte ich, biss zu und lauschte der Rednerin, einer Gewerkschafterin, die sich über gerade über variable Arbeitszeitmodelle und negative Vermögenseffekte sehr ereiferte. Niemand sonst hörte ihr zu, denn wir waren alle nur aus zwei Gründen gekommen: wegen der Fleece-Decken aus Armeebeständen, die am Schluss der Veranstaltung gratis abgegeben werden sollten und natürlich wegen des Stellenlottos.
37 Teilzeitstellen sollten verlost werden – eine Aktion des Sponsorpartners, der die so generierten Arbeitskräfte unter anderem an den Kassen und im Reinigungssektor einzusetzen versprach. Dies für einen Stundenlohn von 16 Franken 20 abzüglich Essenspauschale, aber niemand von uns murrte – ausser ein paar der Damen in der zweitletzten Reihe, die bis kurz vor der ersten Entlassungswelle wenige Monate nach dem Grossen Kollaps bei besagtem Grossverteiler an Kasse und Staubsauger gearbeitet hatten und damals immerhin etwas mehr als das Doppelte verdienten.
Insgeheim rechneten wir aber alle bereits heimlich aus, was wir mit dem Stundenlohn von 12 Franken 35 netto alles so kaufen könnten: Winterschuhe (12,5 Stunden Arbeit). Schmerzmittel (unverzichtbar, seit wir alle die Krankenkassenprämien nicht mehr bezahlen können). Knapp einen Liter Heizöl. Eine neue Jacke für das Kind (8 Stunden Arbeit). Oder ein bisschen an die Steuerschulden, denn auch der Staat braucht natürlich unser Geld ziemlich dringend, obwohl fast niemand mehr in der Lage ist, die Steuern zu zahlen, seit die Lebensmittelpreise so markant gestiegen sind. Aber 68 Milliarden sind ja auch kein Pappenstiel.
Tja, meine Damen, sagte der Personalchef, als er schliesslich mit der Urne voller Wettbewerbstalons auf die Bühne trat und ein Raunen durch die Menge ging, nicht alle können gewinnen, haha! Wir lachten artig mit, denn so ein erster Eindruck kann entscheidend sein, das wussten wir noch aus der Zeit vor dem Grossen Kollaps. Zu den Grossverdienerinnen gehörte auch damals keine von uns, aber wir klammerten uns an unsere Teilzeitpensen wie Koalajunge an ihre Bärenmama. Bis eben der Grosse Kollaps kam und - natürlich – bereits nach wenigen Monaten nahezu alle Teilzeitpensen als allererstes mit sofortiger Wirkung aufgehoben wurden. Da standen wir nun, wir Frauen, und staunten und begannen sofort damit, unsere Blumenrabatten zu Kartoffelanbauflächen umzuspaten und Kohlrabi im Frühbeet anzusäen. Unsere Kinder gewöhnten sich an kratzige, selbstgenähte Kleider und die Männer bekamen jetzt wieder als einzige ein Steak auf den Teller am Wochenende – schliesslich mussten sie plötzlich all die Arbeit selber erledigen, seit Sekretärinnen, Putzfrauen, Assistentinnen, Telefonistinnen, Empfangsdamen und anderen verzichtbaren Mitarbeiterinnen fristlos gekündigt worden war. Natürlich wurde der Lohn der Männer aber nicht erhöht, wie die Steuern und Krankenkassenprämien, sondern gesenkt. Sachzwänge, Sie verstehen, hiess es.
Deshalb eben das Stellenlotto. Natürlich waren solche Veranstaltungen illegal, wer erwischt wurde, musste 23897 Stunden als Reinigungskraft in öffentlichen Gebäuden abverdienen und das war auch der Grund, weshalb diese als einzige noch einigermassen sauber waren. Überall sonst starrte es vor Dreck. Klar, es gab die Militanten SauberFrauen (MSF), die in kleinen Trupps durch die Städte zogen und in einer eindrucksvollen Performance jeweils einen Quadratmeter irgendeiner Strasse, eines Trams oder eines Gebäudes blitzsauber putzen um so „auf saubere Art die Scherben des kapitalistischen Systems zu beseitigen“, wie sie euphorisch skandierten, umrahmt von wilden Kampfansagen an budgethörige Abteilungsleiter und unfähige Chefs. Aber die MSF konnte nicht überall sein und so war es eben dreckig.
Soo, sagte der Personalchef jetzt mit einem ersten Zettel in der Hand, wollen wir mal sehen, meine Damen, wer die Glücklichen sind, haha. Leider sahen wir uns gezwungen, erklärte er weiter und lächelte ein joviales Personalcheflächeln, das Salär etwas anzupassen. Der Budgetdruck, Sie verstehen. Wir verstanden schon lange nichts mehr, ehrlich gesagt, aber wir nickten pflichtschuldig. Der Personalchef las einen ersten Namen. Eine Frau kreischte hysterisch auf und wurde sofort von ihren vermummten Sitznachbarinnen mit scheelen Blicken zum Schweigen gebracht. Dennoch kreischte eine zweite Frau jubelnd, eine dritte, bis der Mann auf der Bühne 37 Namen verlesen hatte. Meiner war leider nicht dabei. Aber einmal würde auch ich Glück haben, dachte ich trotzig und beobachtete den Personalchef, der jetzt mit beiden Händen akkurat einzeln verpackte Tampons und Damenbinden in die Menge warf. Ich hob eine der kleinen Packungen auf und zerknüllte sie wütend, bevor ich einen Blick darauf warf. „Wir nützen Sie aus..“, hiess es darauf, ganz verschwommen. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen, die mir aus lauter Wut gekommen waren, glättete die Packung und las erneut. Natürlich hiess es : Wir schützen Sie - aus Überzeugung!“
Ich ging langsam nach Hause. Schon übermorgen würde ja das nächste Stellenlotto stattfinden.
„Sie sind uns nicht egal“ war auf jedem der länglichen Biskuits in aufwändiger Backglasur zu lesen und nachdenklich kratzte ich mit den Schneidezähnen so lange auf der Keksoberfläche herum, bis das „nicht“ prompt unleserlich geworden war. „Ach, egal“, dachte ich, biss zu und lauschte der Rednerin, einer Gewerkschafterin, die sich über gerade über variable Arbeitszeitmodelle und negative Vermögenseffekte sehr ereiferte. Niemand sonst hörte ihr zu, denn wir waren alle nur aus zwei Gründen gekommen: wegen der Fleece-Decken aus Armeebeständen, die am Schluss der Veranstaltung gratis abgegeben werden sollten und natürlich wegen des Stellenlottos.
37 Teilzeitstellen sollten verlost werden – eine Aktion des Sponsorpartners, der die so generierten Arbeitskräfte unter anderem an den Kassen und im Reinigungssektor einzusetzen versprach. Dies für einen Stundenlohn von 16 Franken 20 abzüglich Essenspauschale, aber niemand von uns murrte – ausser ein paar der Damen in der zweitletzten Reihe, die bis kurz vor der ersten Entlassungswelle wenige Monate nach dem Grossen Kollaps bei besagtem Grossverteiler an Kasse und Staubsauger gearbeitet hatten und damals immerhin etwas mehr als das Doppelte verdienten.
Insgeheim rechneten wir aber alle bereits heimlich aus, was wir mit dem Stundenlohn von 12 Franken 35 netto alles so kaufen könnten: Winterschuhe (12,5 Stunden Arbeit). Schmerzmittel (unverzichtbar, seit wir alle die Krankenkassenprämien nicht mehr bezahlen können). Knapp einen Liter Heizöl. Eine neue Jacke für das Kind (8 Stunden Arbeit). Oder ein bisschen an die Steuerschulden, denn auch der Staat braucht natürlich unser Geld ziemlich dringend, obwohl fast niemand mehr in der Lage ist, die Steuern zu zahlen, seit die Lebensmittelpreise so markant gestiegen sind. Aber 68 Milliarden sind ja auch kein Pappenstiel.
Tja, meine Damen, sagte der Personalchef, als er schliesslich mit der Urne voller Wettbewerbstalons auf die Bühne trat und ein Raunen durch die Menge ging, nicht alle können gewinnen, haha! Wir lachten artig mit, denn so ein erster Eindruck kann entscheidend sein, das wussten wir noch aus der Zeit vor dem Grossen Kollaps. Zu den Grossverdienerinnen gehörte auch damals keine von uns, aber wir klammerten uns an unsere Teilzeitpensen wie Koalajunge an ihre Bärenmama. Bis eben der Grosse Kollaps kam und - natürlich – bereits nach wenigen Monaten nahezu alle Teilzeitpensen als allererstes mit sofortiger Wirkung aufgehoben wurden. Da standen wir nun, wir Frauen, und staunten und begannen sofort damit, unsere Blumenrabatten zu Kartoffelanbauflächen umzuspaten und Kohlrabi im Frühbeet anzusäen. Unsere Kinder gewöhnten sich an kratzige, selbstgenähte Kleider und die Männer bekamen jetzt wieder als einzige ein Steak auf den Teller am Wochenende – schliesslich mussten sie plötzlich all die Arbeit selber erledigen, seit Sekretärinnen, Putzfrauen, Assistentinnen, Telefonistinnen, Empfangsdamen und anderen verzichtbaren Mitarbeiterinnen fristlos gekündigt worden war. Natürlich wurde der Lohn der Männer aber nicht erhöht, wie die Steuern und Krankenkassenprämien, sondern gesenkt. Sachzwänge, Sie verstehen, hiess es.
Deshalb eben das Stellenlotto. Natürlich waren solche Veranstaltungen illegal, wer erwischt wurde, musste 23897 Stunden als Reinigungskraft in öffentlichen Gebäuden abverdienen und das war auch der Grund, weshalb diese als einzige noch einigermassen sauber waren. Überall sonst starrte es vor Dreck. Klar, es gab die Militanten SauberFrauen (MSF), die in kleinen Trupps durch die Städte zogen und in einer eindrucksvollen Performance jeweils einen Quadratmeter irgendeiner Strasse, eines Trams oder eines Gebäudes blitzsauber putzen um so „auf saubere Art die Scherben des kapitalistischen Systems zu beseitigen“, wie sie euphorisch skandierten, umrahmt von wilden Kampfansagen an budgethörige Abteilungsleiter und unfähige Chefs. Aber die MSF konnte nicht überall sein und so war es eben dreckig.
Soo, sagte der Personalchef jetzt mit einem ersten Zettel in der Hand, wollen wir mal sehen, meine Damen, wer die Glücklichen sind, haha. Leider sahen wir uns gezwungen, erklärte er weiter und lächelte ein joviales Personalcheflächeln, das Salär etwas anzupassen. Der Budgetdruck, Sie verstehen. Wir verstanden schon lange nichts mehr, ehrlich gesagt, aber wir nickten pflichtschuldig. Der Personalchef las einen ersten Namen. Eine Frau kreischte hysterisch auf und wurde sofort von ihren vermummten Sitznachbarinnen mit scheelen Blicken zum Schweigen gebracht. Dennoch kreischte eine zweite Frau jubelnd, eine dritte, bis der Mann auf der Bühne 37 Namen verlesen hatte. Meiner war leider nicht dabei. Aber einmal würde auch ich Glück haben, dachte ich trotzig und beobachtete den Personalchef, der jetzt mit beiden Händen akkurat einzeln verpackte Tampons und Damenbinden in die Menge warf. Ich hob eine der kleinen Packungen auf und zerknüllte sie wütend, bevor ich einen Blick darauf warf. „Wir nützen Sie aus..“, hiess es darauf, ganz verschwommen. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen, die mir aus lauter Wut gekommen waren, glättete die Packung und las erneut. Natürlich hiess es : Wir schützen Sie - aus Überzeugung!“
Ich ging langsam nach Hause. Schon übermorgen würde ja das nächste Stellenlotto stattfinden.
chamäleon123 - 2. Nov, 11:30