Sonntag, 4. November 2012

Ernst

Im Zug liess er sich einfach auf den Sitz neben mir fallen. Er fragt nie höflich: "Ist hier noch frei?" oder ähnliches. Ernst, mein alter Weggefährte, kommt und geht, wie es ihm gerade passt. "Na?", fragt er diesmal lakonisch, "Alles im Griff auf der Baustelle?". Er gibt sich gerne locker und flapsig, dabei ist er pingelig wie ein alter Schulmeister. Ich freute mich nicht, ihn zu sehen. Das tue ich nie. Zwar ist er nicht mehr so häufig und so lange zu Gast, wie früher und manchmal winke ich ihm nur aus der Ferne zu und höre seine düsteren Kommentare nur wie ein Flüstern aus der Distanz. Diesmal aber lässt er sich nicht so leicht abspeisen. Vielleicht der Novembernebel, was weiss ich.
"Geh weg", brummte ich müde. Er lachte nur. "Na, Frau Superheldin", sagte er. "Du meist wohl, du seist besser als andere. Stärker. Belastbarer. Härter im Nehmen. Bist du nicht." Er kommt immer so schnell zum Punkt, Geplänkel liegt ihm nicht. "Vier Jobs, wovon der eine ja genau genommen überhaupt keiner ist. In keinem taugst du so richtig was, weil du überall nur so ein bisschen kleckerst. Und schau dich doch mal an. Seit vier Jahren denselben Wintermantel. Den Schal hast du 2006 gekauft. Nur die Tasche ist neu - ein Geschenk. Du vernachlässigst aber nicht nur dich selbst, sondern auch Freundinnen, Eltern, Geschwister. Und die Kinder. Kaum bist du wo, bist du auch schon wieder weg. Immer nervös. Immer gehetzt. Immer nörgelnd. Dabei zermürbst du dich seit Jahren mit denselben Fragen. Löst du sie je? Nein. Du jammerst den armen Freundinnen, Eltern und Geschwistern die Ohren voll, wenn du schon mal ein wenig Zeit für sie zu erübrigen geruhst. Und ärgerst dich über Ratschläge. Bei Arbeit 1 fühlst du dich unterschätzt, bei Arbeit 2 lässt du nach, Arbeit 3 setzt dich sofort unter Druck, sobald es konkret wird. Memme! Und immer bist du müde. Zu müde zum Joggen, zum Streiten, zum Tanzen. Aber isst du endlich mal ordentlich Gemüse oder gleich vegetarisch? Nein, zuwenig Biss für Konsequenzen. "
Ich fühlte mich wie die alten, schmutziggrauen Handtücher auf dem Boden unserer Waschküche. "Bitte", sagte ich, "Es ist ja auch nicht immer einfach.."
"Papperlapapp", sagte Ernst. "Immer Ausreden. Im Lamentieren bist Du gross, aber wenn es um Taten geht: Nichts!". Ich schämte mich. Genau dasselbe hatte ich gestern dem Bären ins Zimmer gebrüllt. Der Arme ist ganz einfach genetisch belastet. "Ja.", rief Ernst und fuchtelte dramatisch mit den Armen, "Du bist das Problem. Du.."
"Sei still."sagte ich. "Das mit dem Vernachlässigen stimmt. Und ja: ich könnte weniger mürrisch, weniger nervös und viel besser sein, bei allem, was ich mache. Aber du kommst immer dann, wenn mir der Sumpf schon über dem Kopf zusammenschlägt und raunst mir solche Sachen in die Ohren. Immerzu, sogar dann, wenn ich schlafe. Du krittelst, du meckerst, nie ist etwas gut genug oder einfach halt einmal unvollständig. Immer sollte alles besser sein, perfekter, harmonischer, dynamischer. Dabei", rief ich jetzt, langsam redete ich mich in Rage, "dabei mache ich das alles doch gar nicht so schlecht. Das Chaos ist nun mal Chaos, der Mantel alt und der Schal - ja, der ist wirklich peinlich. Aber wen kümmerts? Ich frage den Wolf Französisch und den Bären Geschichte ab, kümmere mich um den nahezu gesamten Haushalt und um Kerzenlicht, Seele und Moral und arbeite an vier Tagen die Woche zusätzlich etwas, für das ich bezahlt werde. Ist das etwa nichts? Also: sei still. Und geh weg."
Als ich das gesagt hatte, schaute mich der graue, düstere Ernst sehr grau und düster an. Ich glaube, er war beleidigt. Er ist es nämlich nicht gewohnt, dass ich mich nicht augenblicklich zermürbt an seine Brust werfe und erst mal vier Tage gar nichts mehr zustande bringe. Ich stand auf und drückte den Halteknopf. Dann stieg ich aus. Entgeistert schaute er mir nach. Ich schaute nicht zurück. Weiss der Himmel, in welche Richtung er gefahren ist.


gelesen:


Michael Robotham
Sag, es tut dir leid


Simone Buchholz
Bullenpeitsche


John Williams
Stoner


Stephen King
Doctor Sleep


Paul Auster
Winter Journal

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Das CHAMÄLEON wechselt natürlich ständig die Farbe. Es läuft öfters rot an vor Wut wenn es wieder einmal an allem schuld sein soll, wird höchstens gelb vor Neid wenn es Reiseberichten anderer Leute zuhört oder ist ab und zu blau, weil es immer mal wieder die Luft anhalten soll. Der KLEINE BÄR ist mittlerweile gar nicht mehr sooo klein und muss derzeit hauptsächlich mit List und allerlei Tücke von seinem Nintendo Wii weg und zu den übrigen Freuden des Lebens hingeführt werden. Er verbringt gerne viel Zeit in seiner kuschligen Bärenhöhle und hält Schule für eine schlimme Verschwendung seiner Zeit. Der Bär ist von sanftem Charakter, aber ausserdordentlich eigensinnig. Und manchmal brummt er gehörig. Der KLEINE WOLF ist für jede Aktivität zu haben - ausser manchmal für Geschirrspülmaschine ausräumen. Er legt gerne weite Strecken zurück, auch in Wander- oder Schlittschuhen - und jagt unermüdlich nach süssem Naschwerk. Ab und zu knurrt er grimmig, heult wild und zeigt die Zähne. Macht aber gar nichts. Der LIEBSTE schliesslich ist eben einfach der Liebste. Meistens jedenfalls. Ferner wären da noch das überaus treue SCHLECHTE GEWISSEN. Und natürlich ERNST...

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