Buchorakel
Behüt dich Gott Welt, denn dieweil man dir nachgehet, verzehret man die Zeit in Vergessenheit, die Jugend mit Rennen, Laufen und Springen über Zaun und Stiege, über Weg und Steg, über Berg und Tal, durch Wald und Wildnis, über See und Wasser, in Regen und Schnee, in Hitz und Kält, in Wind und Ungewitter; die Mannheit wird verzehrt mit Erzschneiden und -schmelzen, mit Steinhauen und -schneiden, Hacken und Zimmern, Pflanzen und Bauen, in Gedanken Dichten und Trachten, in Ratschläge ordnen, Sorgen und Klagen, in Kaufen und Verkaufen, Zanken, Hadern, Kriegen, Lügen und Betrügen; das Alter verzehrt man in Jammer und Elend, der Geist wird schwach, der Atem schmeckend, das Angesicht runzlicht, die Länge krumm, und die Augen werden dunkel, die Glieder zittern, die Nase trieft, der Kopf wird kahl, das Gehör verfällt, der Geruch verliert sich, der Geschmack geht hinweg, er seufzet und ächzet, ist faul und schwach, und hat in Summa nichts als Mühe und Arbeit bis in Tod.
H.J.Chr. von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus
chamäleon123 - 10. Jun, 22:49
Das ist es, was sie meinen, wenn sie Reife sagen: Man ist an dem Punkt angekommen, wo man glaubt, sein Leben verpfuscht zu haben. Sie hätte mehr lernen sollen, im voraus; sie hätte alles genauer beobachten sollen, ehe sie sich kopfüber hineinstürzte; aber es tut ihr nicht leid.
Margaret Atwood: Die Unmöglichkeit der Nähe
chamäleon123 - 8. Mär, 09:16
Und plötzlich fiel es ihm wieder ein: Er war ja im Irrenhaus! Und wunderte sich, dass einer sich erlaubte zu spinnen!
...sagt Wachtmeister Studer in Matto regiert" von Friedrich Glauser
chamäleon123 - 1. Nov, 17:10
KöNIG HEINRICH: Und muss so gute Zeitung krank mich machen?
Kommt nie das Glück mit beiden Händen voll?
Schreibt seine schönsten Wort´in garst´gen Zügen?
Es gibt entweder Esslust ohen Speise
Wie oft dem Armen - oder einen Schmaus
Und nimmt die Esslust weg; so ist der Reiche,
Der Fülle hat und ihrer nicht geniesst.
Ich sollte mich der guten Zeitung freun,
Und nun vergeht mir das Gesicht und schwindelt´s.
O weh! Kommt um mich, denn mir wird so schlimm.
(Er fällt in Ohnmacht)
PRINZ HUMPHREY: Der Himmel tröste Eure Majestät.
CLARENCE: O mein königlicher Vater!
WESTMORELAND: Mein hoher Herr, ermuntert Euch, blickt auf!
WARWICK: Seid ruhig, Prinzen: Solch ein Anfall ist
Bei seiner Hoheit, wisst ihr, sehr gewöhnlich.
Entfernt euch, gebt ihm Luft; gleich wird ihm besser.
CLARENCE: Nein, nein, er hält nicht lang die Qualen aus;
Die ew´ge Sorg und Arbeit des Gemüts
Hat so sie Mau´r, die es umschliesst, vernutzt,
Das Leben blickt schon durch und will heraus.
Shakespeare: König Heinrich IV. (Ein Zufall, ich schwörs!)
chamäleon123 - 3. Okt, 22:01
Die nie gegebene Antwort
Im Schutz der Anonymität willst du die Fremde sein,
die Frau, die wie ein Mann die Fäuste fühlt;
du willst Erniedrigung - und willst dein Blut
wie Meere unterm Vollmond aufgewühlt.
Du willst auch den, der dich vergass.
Sein Schatten ist es, der dich blendet.
Du weisst, dass alles weiterlebt, was endet.
Und brichst die Kraft, die er besass.
Du willst sie fühlen: deine tiefste Wunde,
die Männer, die wie Hunde sind.
Ganz innen aber, bei dir selbst,
bist du noch klein und ängstlich wie ein Kind
und kannst, wie Kinder, nur an Wirklichkeiten glauben,
die wirklich unwahrscheinlich sind.
Wolf Wondratschek: Die Gedichte
chamäleon123 - 24. Sep, 16:44
Mein Buchorakel, das funktioniert so: ich stelle eine Frage, meist eine ganz essentielle, eine grundsätzliche, eine, die mir unter den kurzgeschnittenen Nägeln brennt: Wird er immer so fürchterliche Witze erzählen? Wird mir eines Tages jemand eine Reise in die Karibik vor die Füsse legen? Bin ich eigentlich liebenswert? Retten die Weight Watchers mein Selbstwertgefühl? Warum gehen meine Zitronenmuffins (fettfrei!) nicht auf?
Dann mache ich die Augen zu. Zücke ein Buch, blind (okayokay: rechts stehen die Krimis. Da greife ich selten hin. Denn wem nützte ein Ratschlag wie Einmal hatte Geoff geschrieben, er könne sich vage an einen Kampf erinnern.?
Also blind zücke ich das Buch, links im Regal, schlage es auf, blind, und deute mit dem Finger auf eine Textstelle, blind. Da: der Orakelspruch. Die Antwort. Das Nachdenken. Die Erleuchtung. Die abgeklärte Weisheit.
Mein Buchorakel ist die einzige klitzekleine esoterische Anwandlung, der mein rationaler Geist heimlich die Hintertüre aufmacht und sie verschwörerisch zwinkernd hereinwinkt. Mir graut höchstens vor dem Tag, an dem ich mal Bukowski erwische, obwohl der ganz hinten steht. Oder den Reiseführer Yukon. Oder - schauder - die Weiber Nebel von Avalon.
chamäleon123 - 13. Sep, 22:12
Der Verschlepper sieht auf die Uhr, um zu wissen, wo er nicht hingehen darf, da man auf ihn wartet. An stillen Orten, die keiner kennt, verbringt er die Zeit, in der man ihn belästigen wollte. Sie vergeht sehr rasch, weil er nicht zu finden ist und sich gern die vorstellt, die nach ihm suchen. Für seine Unauffindbarkeit wird er hoch geachtet. Es wird angenommen, dass er sehr beschäftigt ist und da noch niemand erfahren hat, womit, muss man wohl glauben, dass es sich um besonders Wichtiges handelt.
Elias Canetti: Der Ohrenzeuge - Fünfzig Charaktere
chamäleon123 - 13. Sep, 22:00
Lue, das ist dHauptsach, dass du es machst wie eine gute Hausmutter! Die wäscht ab, sobald angerichtet und abgegessen ist, und ehe sie zu Bette geht, räumt sie auf, sieht nach, ob allenthalben alles in Ordnung ist, stellt jede Sache an ihren rechtenOrt, und was nicht in die Küche gehört, wirft sie draus, alles Ghüder in Kratten, um morgens auf den Mist zu wandern. Sieh, so mach es auch mit deinem Herzen! Putz es alle Abend aus von allem täglichen Unrat , was sich ansetzen will, was nicht hineingehört, wo es Gott wohlgefällt, damit du es am Morgen, gleich wenn das Tagwerk anfängt, wieder bei der Hand habest, die Geduld, die Sanftmut, die Freundlichkeit, den Frieden, die Liebe, und was alles Gutes und Schönes im Herzen sein soll (..)
Das nimmst viel zu schwer, und das kommt davon her, dass du meinst, es solle alles recht sein, was du machst. Das bessert dir hoffentlich, so gut als es mir gebessert, ich hatte es früher ungefähr auch so.
Die Mutter zur jungen Bauernfrau Stüdeli, die sich mit den Emmentaler Gebräuchen schwertut und heftiges Heimweh hat in Jeremias Gotthelf: Der Besuch (Erzählung)
chamäleon123 - 4. Sep, 10:43